Zuallererst, möchte ich sagen, dass man nicht sagen kann, es wäre schlecht geplant gewesen. Wir hatten zwei Stadtpläne mit uns und Eline guckte an jeder Straßenecke auf mindestens einen. Tatsächlich erreichten wir den Prager Busbahnhof, eine halbe Stunde zu früh. Zeit für einen letzten kurzen Kaffee.
Eline und ich waren seit vier Tagen in Prag, hatten die Stadt durchstreift, Geschichten gefunden und Menschen getroffen. Jetzt waren wir müde und freuten uns auf Zuhause. Seit 2009 feiern Eline, eine Niederländerin, die ich in Lettland traf, und ich zusammen Silvester. Dieses Jahr hätte ich unser gemeinsames Fest fast abgesagt, „Frollein Europa“ lässt ein paar Tage Urlaub im Moment nicht zu. Eline überzeugte mich schließlich, dass ich auch in Prag arbeiten könnte und sogar eine schöne Geschichte für den Blog finden würde. Wie recht sie hatte!
Aber zurück zum Prager Busbahnhof: Mit der allerminimalsten Verspätung von circa zwei Minuten machte ich mich schließlich auf zum Hauptbahnhof, von wo in 28 Minuten mein Zug nach Berlin abfahren würde. Nicht mehr als 500 Meter, der Weg auf dem Plan schien so einfach… Ruhig und sicher ging ich meinen Weg. Die Straßennamen stimmten mit denen auf meiner Karte überein, alles war gut. Bis mein Weg zu einer Autobahnauffahrt wurde. Keine Chance die verbleibenden Meter hier zu bewältigen. Aber okay, es gab noch einen anderen Weg, eine kurze Station mit der Metro, Schwarz, aber was solls, dachte ich. Die Zeit würde knapp werden, es war aber durchaus möglich es zu schaffen. Ich lief zum Metro-Eingang und der war abgesperrt. Die eisernen Tore bleiben fest geschlossen, auch wenn ich meinen riesigen Rucksack dagegen warf. Ein laminierter Zettel auf tschechisch informierte über was weiß ich was. Beunruhigt fragte ich die Vorbeikommenden und nach einer zu langen Weile kam heraus, dass der weiße Zettel auf einen Schienenersatzverkehr hinwies. Der Bus fahre direkt auf der anderen Straßenseite. Und dort, an der leeren Haltestelle blinkte grade ein Bus mit den Rücklichtern und verschwand im Verkehr.
Das Prager Metronom gibt den Takt der Stadt an. Wäre die Zeit für mich langsamer vergangen, hätte es jemand angehalten?
Panik überkam mich. Elf Minuten noch, Elf Minuten bis der gemütliche Zug mit den kleinen Abteilen, in denen sich der blaue, gepolsterte, auf meinen Namen reservierte Sessel befand, in Bewegung setzen würde. Der nächste Ersatzbus sollte in 8 Minuten kommen, er fuhr nur zwei Minuten, aber ich wusste, ich hätte keine Chance, von der Haltestelle durch das große Bahnhofsgebäude bis zu meinem Gleis in einer Minute zu kommen. Ich rannte, rannte wie Lola in Lola rennt, nur mit einem großen Rucksack, der abwechselnd flog und mich in den Boden drückte, rannte mindestens so panisch und fast so fotogen wie Lola. Rannte theatralisch über dicht befahrene Straßen und schrie beim Atmen vor Schmerz. Und dann: Der Straßenname stimmte mit dem auf meiner Karte nicht mehr überein. „Sorry, somebody help me!“ brüllte ich und wedelte mit meiner Karte. Menschen gingen auf Abstand. Eine nicht. Eine wunderschöne Frau mit langen braunen Haaren und einer Weste aus Fell warf einen Blick auf die Karte in meiner zitternden Hand, nahm meine Hand mitsamt der Karte und rannte los. Bis zur nächsten Ecke zog sie mich. Dann konnte ich den Bahnhof sehen, sie gab mir einen letzten Stoß, dann wankte ich alleine weiter.
Ich schubste andere Reisende und sprintete unter der Uhr hindurch, die mir hinter herrief, dass der Schaffner grade seine Pfeife suche, um zur Abfahrt hineinzublasen. Mit rasselnden Lungen verfluchte ich die langen Wege am Prager Hauptbahnhof.
Ich schaffte es nicht.
Gleis drei lag dunkel und leer vor mir. Ein bisschen Müll wehte über den Steinboden und die blauen Anzeigetafeln spulten durch die Buchstaben um den nächsten Zug anzukündigen. Nächster Zug nach Berlin, Hostel, Botschaft, Internet, Telefonieren. Das Notfallzentrum meines Hirnes begann rasch zu arbeiten und Möglichkeiten zu überdenken. Wie bei einem Spielautomaten, der schnell Äpfel, Birnen und Kirschen hintereinander zeigt und schließlich bei der Null stehen bleibt, rastete mein Hirn bei einem Wort ein: Geld.
Ich hatte nichts, kein Bargeld außer 2,10€ für eine Fahrkarte in Berlin, keine EC und keine Visakarten. Nicht mal einen Perso. Mein Portemonnaie war mir vor zwei Tagen geklaut worden. Meine Fahrkarte war an den Zug, der den Bahnhof grade verlassen hatte, gebunden.
Zusammenrollen und schlafen bis das alles vorbei ist, war der Vorschlag meines Haupthirns. Ächzend warf ich den Notfallspielautomaten wieder an. Internet, zuallererst brauchte ich Internet. Mein Laptop hatte ich zum Glück bei mir und Burger King war nicht weit. Schweiß tropfte von meiner Stirn auf den Plastiktisch während ich meinen Laptop aus der Tasche zerrte. Tatsächlich: Noch ein Zug nach Berlin, noch eine Möglichkeit. 18.29 Uhr würde der Zug fahren, ich hatte also etwas mehr als zwei Stunden um fast 70€ zusammenzubekommen. Nicht mal Prostitution wäre effektiv genug, dachte ich frustriert. Kaufen konnte man die Tickets im Internet selbstverständlich nicht. Ich hatte die Zugangsdaten fürs Onlinebanking, hätte also Geld überweisen können. Wenn jemand mir eine Fahrkarte kaufen würde, könnte ich ihm oder ihr das Geld sofort überweisen, dachte ich. Wie vertrauenswürdig wirkt ein verschwitztes Mädchen ohne Pass, dass 70€ will?
Egal, ich musste es probieren. Den Rucksack zurück auf die Schultern gehievt machte ich mich auf die Suche nach Menschen. Ich fragte alle, die entweder nett aussahen, oder deutsch oder englisch sprachen. Es gab welche, die mir zuhörten, welche, die ihr Geld zählten und keine 1558 Kronen hatten und welche, die das Geld hatten aber unter den missbilligen Blicken ihrer Freunde sagten, dass sie ihre Kontonummer nicht wüssten. Eine halbe Stunde war vergangen und ich spürte, dass ich niemanden mit soviel Vertrauen und Zeit finden würde. Wieder kreisten meine Gedanken, es musste doch noch eine Möglichkeit geben! Vielleicht könnte ich dem Schaffner meine Geschichte erzählen und mit ihm verabreden, dass ich die 70€ in Deutschland am Bahnhof bezahlen würde. Ich rief meine Mutter an, das würde gehen, sagte sie. Aber ich solle vorher am Bahnhofsschalter fragen, ob so etwas möglich sei.
Die Dame im International Ticket Office schüttelte ihre Locken und empfahl mir die deutsche Botschaft. Während ich erschöpft an die gläsernen Wand des Ticket Offices lehnte und überlegte, ob die deutsche Botschaft noch auf und Gästezimmer hätte, war im Internationalen Office Schichtwechsel. Statt der lockigen Dame saßen dort nun zwei junge Männer und unterhielten sich lächelnd. Eine wertvolle Lektion, die ich dank der deutschen Bahn vor einiger Zeit lernen durfte: Nur weil der eine Schalterbeamte etwas nicht genehmigt hat, heißt es nicht, dass der nächste nicht anders entscheiden wird.
Ich erzählte den Jungs also von meinem verschwundenen Portemonnaie, dem verpassten Zug und der großen Verzweiflung. Sie lächelten, besprachen etwas auf tschechisch und klickten auf ihrem Computer herum. Ich versuchte zu erklären: „ I want to pay for the ticket in Berlin, is that somehow possible?“ Der Mann näher am Computer schüttelte abwesend den Kopf und antwortete mir: „ That’s very complicate“. Ach nee, dachte ich und guckte auf meine Füße, um nicht zu heulen. Als ich aufschaute, grinsten mich Beide an. „Look“, sagte der kleinere, etwas dickere, und hielt mir zwei kleine Zettel hin. „You missed your train, because your train from Bohumin delayed. Stupid czech railway!“ But this is not your fault, we give you a sticker for your ticket, which says that you can take the next train to Berlin for free.“ Still staunte ich die beiden an. „It’s faked, you know“ sagte der Andere vorsichtig.
„You are Angels!“ kreischte ich und wäre gerne über den Schalter gehüpft um die beiden zu Umarmen. Aber Osteuropa bleibt Osteuropa und so wichen die beiden zurück, grinsten mich an und winkten ab. Strahlend verließ ich das Ticket Office. Ich schwebte zum Bahnsteig, flog in den bereitstehenden City Night Liner und suchte mir einen Sitzplatz.
Dort sitze ich nun und möchte irgend wen vor lauter Dankbarkeit küssen.Die fünf Tschechen, die mit mir im Abteil sitzen, lächeln mich freundlich an. Vielleicht darf ich ihnen ja wenigsten die Hand schütteln zum Dank für die zwei Engel hinterm Schalter. Grade kam der Schaffner herein guckte sich mein merkwürdiges Ticket an, ließ sich erklären, warum ich ihm beim besten Willen keinen Personalausweis zeigen kann und sagte schließlich: „In Czech Republic that possible, but in Germany? oh. oh.“
Manchmal weiß ich nicht, ob ich stolz sein soll, dass ich Tschechin bin, oder nicht… :o/ Jedenfalls ist eine richtig schöne Geschichte daraus geworden. Könnte man gut verfilmen… LG, Katerina