24 Stunden Gezi – Morgens

Es ist 6.30 Uhr am Morgen, Eren stapelt Tomaten und Käse auf Plastiktellern. “Wir versuchen jeden Tag ab 6 Uhr das Frühstück für die fertig zu haben, die vom Gezi aus zur Arbeit oder Uni fahren” erklärt Eren mir. Er ist ein bisschen heiser und hat heute auch schon  ein Interview mit dem ZDF hinter sich. Sie wollten ihn  unbedingt filmen, wie er Frühstück ausgibt. Seitdem die Proteste angefangen haben, ist Eren zum Medienprofi geworden. Grade deutsches Fernsehen oder Redaktionen stützen sich immer wieder auf ihn, den Deutsch-Türken, der seit Anfang an dabei war. Doch eigentlich redet Eren lieber über die anderen Menschen im Park als über sich. Er ist einer dieser Menschen, die einem in einer halben Stunde zehn Menschen vorstellen und es schaffen, alle so miteinander bekannt zu machen, dass sie sofort ein gemeinsames Thema haben. Für mich überwindet Eren heute Sprachbarrieren. Obwohl viele im Park englisch sprechen, gibt es doch immer wieder Menschen, mit denen ich so gerne reden würde, aber ohne Türkischkenntnisse nicht kann. Einer dieser Menschen ist Fatoş. Die zierliche junge Frau steht hinter dem Frühstücksstand, scherzt mit den Menschen, tanzt und scheint überall gleichzeitig zu sein. „Fatoş ist heute nicht so gut drauf“, sagt Eren, „Ihr solltet sie mal an normalen Tagen erleben! Das hier ist nur Energielevel Eins.“.

SAM_0152Eren (rechts) und Fatos (neben ihm) nachdem der erste Frühstücksansturm vorbei ist

In Ankara hat es auch in der Nacht zum 13. Juni wieder schwere Straßenkämpfe zwischen Polizei und Demonstranten gegeben. Während alle mediale Aufmerksamkeit auf den Gezi-Park gerichtet ist, knüppelt die Polizei in Ankara und anderen Städten noch weitgehend ungestört Demonstrationen nieder. Ein guter Freund von Fatoş steht trotzdem jeden Abend wieder auf der Straße und hofft so irgendwann Veränderungen bewirken zu können. Der Freund ist Schauspieler und hätte heute Aufnahmen für eine türkische Fernsehproduktion. Bisher hat er sich aber noch nicht gemeldet. Fatoş sagt, dass wäre untypisch für ihn. Vielleicht ist sie angesichts der vielen Verletzten aber auch einfach sehr sensibilisiert. „Es sind weitaus mehr Menschen, die ihre Augen verloren haben, es sind weitaus mehr Menschen, die verletzt und mit Polizeigewalt konfrontiert wurden, es haben weitaus mehr Menschen schwere Behinderungen davongetragen, als die Medien vermitteln. Wir haben hier vielleicht fünf oder sechs Tage Polizeigewalt erlebt, Ankara erlebt es jede Nacht. Die negative und traurige Seite der Proteste ist leider so viel größer, als es hier im Gezi erscheint.“ sagt sie und schaut wieder auf ihr Telefon. Er hat sich immer noch nicht gemeldet.

Es wäre nicht das erste Mal, dass einer ihrer Freunde bei den Protesten gegen Erdogan verletzt werden würde. Viele ihrer Freunde waren ganz am Anfang hier, als es nur eine Handvoll Menschen waren, die den Polizisten aus Büchern vorlasen und für den Erhalt des Parkes demonstrierten. Diese erste Gruppe der Demonstranten wurde von der Polizei sehr gewalttätig aus dem Park vertrieben. Einer ihrer Freunde hat ein Auge verloren, ein anderer wurde schwer am Bein verletzt. Diese willkürliche und überzogene Polizeigewalt war für Fatoş, wie für viele andere, der Auslöser, ebenfalls in den Gezi-Park zu kommen und gemeinsam mit den Anderen zu demonstrieren. Eigentlich arbeitet die zierliche junge Frau als Kostümbildnerin. Grade jetzt sollte sie, genau wie ihr Schauspieler-Freund in Ankara, am Set einer Produktion für das staatliche türkische Fernsehen sein. „Aber das Set ist so gut wie leer, alle sind hier oder auf den anderen Demos“ sagt sie und lächelt wieder.

SAM_0150Eine typische Morgenaktivität: Den Müll des letzten Abends beseitigen

Hier im Gezi-Park arbeiten Fatoş und Eren am „Eier-Stand“. Zu Beginn war der Tisch unter einem Baum von internationalen Studenten, die ihre Unterstützung ausdrücken wollten, besetzt. Einige von ihnen wurden des Landes verwiesen und der Rest ging aus Angst, als Erdogan die Proteste den Erasmus-Studenten anhängen wollte. Dass die Proteste nacheinander den Erasmus-Studenten, den Kurden und der Zinslobby angehangen wurden, stört Eren sehr. „Mich hat keine Bank angerufen: Hör mal, ich sponsore das. Geh mal rüber da und mach die türkische Wirtschaft kaputt: Wir wollen Erdogan teuer Geld leihen! Erdogan weigert sich einfach einzusehen, dass es Teile des eigenen Volkes sind, die sich gegen ihn stellen.“

Als ich wissen will, woher Eren und Fatoş sich kennen, muss Eren doch ein bisschen ausholen und von sich erzählen.
Bis zur achten Klasse besuchte Eren ein Gymnasium in Köln. Als Jugendlicher erlebte er Mölln, Solingen und die Fackelzüge Rechtsextremer. Das Gefühl, unerwünscht zu sein, hat dafür gesorgt, dass er ein starkes türkisches Nationalgefühl entwickelte. Als er dann auf Zypern studierte, wurde er erst Mitglied und dann schnell Rudelführer einer nationalistischen Studentenverbindung. „Die Russen und die Chinesen sind auf dem Mond, unser Ego aber war auf dem Mars.“ sagt er über diese Zeit. Irgendwann wurde es ihm alles zu viel, er begann an der nationalistischen Ideologie zu zweifeln und unterbrach das Studium schließlich für eine Auszeit in Köln. Dort las er viel und entschloss sich zu seinem Ausstieg. Zurück an der Uni in Zypern wollte die Studentenverbindung ihn wieder anwerben. Um sie abzuwimmeln setzte er eines Tages ein Zeichen: Er ging zum Frisör, rasierte sich den Kopf, ließ sich beim Juwelier gegenüber ein Ohrloch stechen und kleidete sich im Stil eines englischen linken Punks ein. Die Studentenverbindung ließ ihn von diesem Moment an in Ruhe…

Durch seinen neuen Freundeskreis, Bücher und Selbststudium konfrontierte er sich mit vielen seiner früheren Ängste und Feindbilder wie etwa Homophobie. Das er auf dem richtigen Weg war, erkannte er, als sich plötzlich auch schwule Bekannte in seiner Nähe wohlfühlten, sagt Eren heute. Den endgültigen Wendepunkt markierte jedoch die Ermordung des armenischen Journalisten Hrat Dink 2007. „Mein Land ist nicht so schön, wie ich es mir immer geredet habe.“, stellte er für sich fest. Seit dem nahm er an jeder Gedenkdemonstration für den ermordeten Journalisten teil. Schnell knüpfte er Kontakte zu anderen türkischen Oppositionellen und auch, zum ersten Mal in seinem Leben, zu kurdischen Aktivisten. „Unglaublich, was denen im Laufe der Zeit angetan wurde. Ich hätte schon mit deutlich weniger eine Terrorgruppe gegründet!“. Durch dieses Netzwerk hat Eren auch sehr schnell von den Protesten im Gezi-Park erfahren. Da er im Moment in Deutschland arbeitet, buchte er sofort einen Flug nach Istanbul. Beim Handyakkuaufladen im Gezi-Cafe begegnete er Fatoş.

SAM_0138Viele Istanbullu bringen morgens auf dem Weg zur Arbeit Spenden in den Park. Lange Menschenketten transportieren die dann bis zum Versorgungslager

Die erste gemeinsame Aktion der beiden Frohnaturen war es, im Park freie Umarmungen zu verteilen. Irgendwann aber war die erste, pessimistische Stimmung verflogen, Umarmungen wurden nicht mehr gebraucht und die beiden saßen zusammen herum. „Wir wollte irgendetwas beitragen und dann kam ein älterer Mann mit einer Packung Eier an unserem Baum mit dem verwaisten Stand der Erasmus-Studenten vorbei.“ Fatoş hatte dann die Idee, die massenweise gespendeten Eier mit Smileys zu bemalen. Schnell kamen Slogans dazu und irgendwann schrieb jede und jeder einen Slogan oder seine Botschaft an Erdogan aufs Ei, bevor es in die Pfanne gehauen wurde.

DSCF4118Angst vor weiteren Angriffen der Polizei haben die Beiden nicht. „Ich habe keine Angst. Tayyip kann kommen, wie er möchte!“ sagt Fatoş. Eren lacht: „Fatoş müssen wir manchmal zurückhalten. Wenn wir sie lassen würde, stände sie bei jeder Auseinandersetzung ganz vorne. Zu viel Energie, die Frau! Und ein großes Herz sowie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.“

4 thoughts on “24 Stunden Gezi – Morgens

  1. Pingback: Gezi rund um die Uhr – Mittags | frolleineuropa

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