Warum ich die 80,4% slowakischer Nichtwähler verstehen kann.

Die Filmcrew ist nun abgefahren, sie werden Anfang Mai wieder kommen und wir werden versuchen zu filmen, was ich so über die Europawahl in der Slowakei herausgefunden habe. Bisher bin ich mit dem, was wir gefilmt sehr zufrieden. Eigentlich gab es nur einen einzigen Moment des Unbehagens:

Das Kamerateam begleitete mich in die Wohnung meiner Couchsurfinghosts in Žilina in der Slowakei. Bea und Matthias waren toll, sie ließen sich spontan auf die Kamera ein und begannen mit mir am Küchentisch eine Diskussion über Europa, die Wahlen und die Slowakei. Bea hat 2009 nicht gewählt. Sie ist nicht unbedingt europaskeptisch. Sie glaubt sogar, dass der Euro sehr gut für die Slowakei ist und hat selber im europäischen Ausland studiert. Sie hat nicht gewählt, weil sie nicht wusste für was oder wer überhaupt zur Wahl stand. Sie hat nicht den Eindruck genug über europäische Politik zu wissen, um darüber zu entscheiden. Außerdem glaubt sie nicht, dass ihre Stimme einen Unterschied macht.

SAM_0927Meine tolle Gastgeberin Bea

Am Ende unserer Diskussion fragte Kirsten, die Redakteurin unserer Doku, Bea ob sie nach dieser Diskussion nun vielleicht doch wählen gehen würde und ob das Zusammentreffen mit mir ihre Sicht auf Europa und die Wahlen verändert hat. Bea bejahte beides. Ich fühlte mich sofort sehr unwohl.

Ich weiß nicht ob die Europawahl wichtig ist

In den folgenden Tagen lies ich dieses Gespräch in meinem Kopf immer wieder Revue passieren und versuchte herauszufinden, was mich daran eigentlich so sehr gestört hat. Ich stellte fest, dass es das gleiche Gefühl ist wie wenn jemand mich bittet zu erklären, warum die Europawahlen wichtig sind und jede Stimme zählt.

Ich habe mich nun über ein Jahr fast ohne Pause mit Europa und der EU beschäftigt und muss sagen: Ich weiß es nicht. Wenn Organisationen wie die Bundeszentrale für politische Bildung begründen wollen warum es wichtig ist zur Wahl zu gehen greifen sie meist tief in die Pathos-Kiste.

„Doch die Teilnahme an der Europawahl ist weit mehr als eine Möglichkeit zur Mitwirkung an europapolitischen Entscheidungen. Jede Stimme ist ein Beitrag zum Zukunftsprojekt, zur Vision Europa.“, weiß die Bpb zum Beispiel zu der Wahl 2014 zu sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das glaube. Ist meine Stimme wirklich ein Beitrag zu einem Zukunftsprojekt? Und welche Kompetenzen hat die zu wählende Institution, das europäische Parlament, wirklich?

Der Begriff „Europawahl“ an sich ist nämlich schon etwas irreführend. Die EU besteht im wesentlichen aus drei Instanzen: der europäischen Kommission, dem Rat und dem europäischen Parlament.

Die Kommission bilden von den Regierungen der Staaten ernannte Kommissare. Mit der Wahl im Mai hat die Kommission absolut nichts zu tun. Der Rat besteht aus den verschiedenen Ministern der Staaten. Also zum Beispiel allen Finanzministern. Logischerweise hat die Europawahl mit der Zusammensetzung des Rats nichts zu tun.

Die Europawahl bestimmt also lediglich die Zusammensetzung eine der wichtigsten europäischen Instanzen: Des europäischen Parlaments.

Wie schwachsinnig darf ein Wahlkampf sein?

Hier in der Slowakei finden sich bisher so gut wie nirgendwo Wahlplakate für die Europawahl. Bea sagte, dass das so bleiben wird. Ich kam aber vor meiner Abfahrt noch in den Genuss der deutschen Wahlplakate. Und in diesem Wahlkampf nehmen sich wirklich alle nichts an Blödsinnigkeit.

  • Um meiner Berliner Wohnung herum folgte mir Merkel auf Schritt und Tritt. Überlebensgroß lächelte sie von CDU Plakaten herunter, die verkünden: „Gemeinsam erfolgreich.“
  • Die SPD verspricht ein „Europa der Menschen und nicht des Geldes“.
  • Die Linke verspricht bei Wahlerfolg, dass “Zockerbanken” kein Steuergeld mehr bekommen.
  • Die Piraten haben sich für einen hübschen Spruch entschieden, den ich früher auch gerne in meinem Poesiealbum gehabt hätte: “Zwischen Angst und Mut liegt nur ein Herzschlag”

So. Als Betrachterin der Plakate glaube ich nun, dass ich bei der Europawahl darüber entscheiden kann, ob Merkel mit meiner Stimme erfolgreich wird. Oder darüber, ob es eine Finanztransaktionssteuer oder andere Maßnahmen zur Bankenregulierung geben soll. Beides ist falsch. Merkel hat mit dem europäischen Parlament nichts zu tun und im europäischen Parlament auch absolut keine Entscheidungsgewalt. Das europäische Parlament hat kein Initiativrecht. Selbst wenn die SPD oder die Linke bzw. ihre Fraktion im europäischen Parlament die Mehrheit hätte, könnte sie keine Finanztransaktionssteuer vorschlagen. Gesetzesvorschläge kann nur die europäische Kommission machen, das Parlament darf nur Änderungen an Gesetzesentwürfen vorschlagen und Gesetze annehmen. Aber dazu später mehr.

Nun könnte man wohl sagen, dass Plakatwahlkämpfe immer etwas verkürzt sind und man sich ja auch anders über die Wahl informieren kann. Zum Beispiel auf der Website der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Wüttenberg. Dort wird ebenfalls dazu aufgerufen zur Wahl zu gehen. Begründet wird die Wichtigkeit der Wahl mit dem „Stichwort Eurokrise“. Im kurzen Text darunter werden Rettungsschirme, Eurobonds, und Kredite für verschuldete Staaten genannt als Erinnerung daran, dass die EU unser aller Leben beeinflusst. Das ist sehr richtig. Nur: Das europäische Parlament hat mit der finanzpolitischen Seite der Krise nicht allzu viel zu tun. Dafür ist größtenteils die Kommission bzw. der Rat der Minister zuständig.

Und zu guter Letzt hat auch das europäische Parlament selbst eine Website eingerichtet, um für den Wahlgang zu werben. Man sollte meinen, das Parlament könnte seine eigenen Kompetenzen realistisch einschätzen. Als erstes springt mir auf der Website der Wahlwerbespot des Parlaments ins Auge. In 1:37 Minuten werden hier alle, aber auch wirklich alle, wichtigen Themen des Lebens mit einer gehörigen Portion Pathos angesprochen. Von Liebe, Geburt, Hass und Träumen ist hier die Rede. Kurze Videosequenzen zeigen zum Teil wirklich wichtige Themen der aktuellen EU-Politik. Ein Flüchtlingsboot von dem ein paar Menschen ins Wasser springen wird gezeigt (Sprecher sagt: „Träume“). Ein Mensch, der wohl ein Roma sein soll, hebt ein Kind zum Zähneputzen aus dem Kofferraum des Autos in dem die beiden leben zu scheinen (Sprecher: „Verlieren“). Die Börse und ein großes Containerschiff sollen wohl symbolisieren, dass EU-Politik wichtig für die Wirtschaft ist.



Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt: Das Wahlvideo des europäischen Parlaments


Kurz bevor das Video endet lässt der Sprecher mich dann noch schnell wissen, was all die Emotionen, die er dort über die Videos gesprochen hat, mit dem europäischen Parlament zu tun haben: „Was Sie [die Menschen Europas] bewegt, bestimmt die Beschlüsse des europäischen Parlaments“.

Das ist gar nicht so falsch. Das Parlament wird durch die Europawahl direkt gewählt. Jeder Mensch in der EU hat die Möglichkeit eine Petition an das Parlament zu stellen. Nur: Über die angesprochenen Themen kann das EU-Parlament zumindest nicht in dem Maße entscheiden, wie zum Beispiel der Bundestag es bei Deutschland betreffenden Themen könnte.

Wenn das Parlament die Welt nicht retten kann, was kann es dann?

Die Aufgaben des europäischen Parlaments:

europaparlament aufgaben

Unter den Kompetenzen des europäischen Parlaments scheint mir das Budgetrecht das wichtigste wenn es um die im Wahlkampf angekündigten Entscheidungen geht

Die Infografik der Bpd nennt „Haushaltsplan beraten und ändern“, „Haushaltsplan ablehnen“ und „Haushaltsplan“ zustimmen als die Aufgaben des europäischen Parlaments. Das ist technisch zwar nicht falsch, sagt aber wenig darüber aus, wie viel Einfluss das Parlament tatsächlich auf die Finanzen der Europäischen Union hat.

Im folgenden Absatz werde ich versuchen das Haushaltsrecht der EU ein wenig aufzuschlüsseln. Ich habe erst versucht mit Torten oder lustigen Metaphern zu arbeiten, aber das Thema bleibt einfach trocken. Deshalb ist es jetzt so geschrieben wie man ein Pflaster abziehen sollte: kurz und direkt. Bereit?

Alle fünf Jahre erarbeitet die europäische Kommission den Mehrjährigen Finanzplan (MFR). Im MFR ist festgelegt, wie viel Geld die EU wofür ausgeben darf. Der MFR ist in sechs verschiedene Kategorien unterteilt. Zum Beispiel gibt es die Kategorie „Nachhaltiges Wachstum“. Die Kommission bestimmt, wie viel Prozent des Budgets für welche Kategorie verwendet werden soll.

Den fertigen MFR legt die Kommission dann dem Rat und dem Parlament zu Abstimmung vor. Beide Institutionen dürfen keine Änderungen vorschlagen, nur den MFR als Ganzes ablehnen. Wird der MFR abgelehnt muss die Kommission einen neuen Plan erarbeiten.

Dem MFR ist der Jahreshaushaltsplan untergeordnet. Hier werden die sechs Kategorien noch einmal aufgeschlüsselt. So gibt es zum Beispiel in der Kategorie „Nachhaltiges Wachstum“ den Unterpunkt „Forschungsprogramme“. Der MFR sieht vor, dass 61% des Geldes in der Kategorie „Nachhaltiges Wachstum“ für Forschungsprogamme ausgegeben werden sollen. Im Jahreshaushaltsplan wird dann festgelegt, welche Forschungsprogramme wie viel Geld bekommen sollen. Also zum Beispiel, ob das Erasmusbudget, innerhalb dieser 61%, aufgewertet werden soll.

Der Jahreshaushaltsplan entsteht, in dem die einzelnen Organe und Einrichtungen der EU einen Vorschlag für ihre eigenes Budget im nächsten Jahr erstellen. Die Kommission fasst diese Vorschläge zusammen und erstellt einen Entwurf für den Haushaltsplan des nächsten Jahres. Dieser Entwurf wird dann dem Rat zur Abstimmung überreicht. Dann wird der Entwurf an das europäische Parlament weitergegeben.

Das Parlament hat nun zwei Möglichkeiten:

  1. Es kann den Entwurf annehmen. Dann ist der Jahreshaushaltsplan beschlossen.
  2. Es kann den Entwurf ablehnen und verändern.

Der Rat muss eventuellen Veränderungen zustimmen. Wenn der Rat den Änderungen des Parlaments nicht zustimmt kommt es zu einem Vermittlungsaussschuss unter Leiterung der Kommission. Gibt es immer noch keine Einigung muss die Kommission einen neuen Entwurf ausarbeiten.

Das Parlament kann also an der groben Verteilung des Geldes nicht viel ändern. Es kann aber Feinheiten, wie zum Beispiel die Frage, ob das FRONTEX-Budget innerhalb der Rubrik „Freiheit, Sicherheit und Recht“ aufgewertet wird.

SAM_0903Wenn ich nicht grade versuche die EU zu verstehen mache ich auch mal schöne Dinge. Auf slowakischen Burgruinen rumklettern zum Beispiel


SMS vom europäischen Parlament

Das letzte Mal, dass das europäische Parlament in meinem täglichen Leben eine aktive Rolle gespielt hat war, als ich eine SMS von meinem Mobilfunkanbieter bekommen habe: „Dank einer Entscheidung des europäischen Parlaments zahlen Sie ab sofort für SMS und Anrufe innerhalb der EU nur soviel, wie Sie auch zu deutschen Nummern bezahlen.“. Ich kann den genauen Weg dieser Neuigkeit nicht nachvollziehen, aber vermutlich hat die Kommission einen entsprechenden Gesetzesvorschlag gemacht und das Parlament hat dann zugestimmt. Darüber habe ich mich sehr gefreut.

Versteht mich nicht falsch. Von allen EU Institutionen mag ich das Parlament am liebsten. Ich habe bei meinen Interviews dort tolle, engagierte Abgeordnete kennen gelernt. Das EU-Parlament ist die einzige supranationale, wenigstens regierungsähnliche Organisation der Welt. Alles was ich an der Idee von Europa liebe, das Neue, das Wagnis, die Chance etwas zu gestalten und zu verändern sehe ich am ehesten in dieser Institution vertreten. Ich mag ein Nerd sein, aber der Gedanke, dass das EU-Parlament eine ganz neue Idee, vielleicht das bessere Nachfolgemodell des Nationalstaates, ist bereitet mir eine Gänsehaut.

Und doch weiß ich nun, warum ich mich unwohl fühlte, als Bea sagte, dass sie nun vielleicht doch wählen gehen würde. Es ist, dass diese Wahl niemals halten kann was sie verspricht.

Schlimmer als keine Wahlen: Wahlen ohne Effekt

Auf dem letzten Stück Autobahn nach Žilina nahm mich ein Niederländer mit, der mit einer Slowakin verheiratet ist und schon seit Anfang der 2000er in der Slowakei lebt. Auch er steht der EU nicht unbedingt ablehnend gegenüber. Wählen geht er aber trotzdem nicht. Er sagte, er habe 2005 in den Niederlanden gelernt, dass Wahlen in der EU nichtig sind. 2005 gab es in den Niederlanden eine Abstimmung über den EU Verfassungsvertrag. 60% der Niederländer sprachen sich gegen die Verfassung aus. Tatsächlich trat dieser Verfassungsvertrag nie in Kraft. Er wurde dann mit dem Vertrag von Lissabon ersetzt über den nie abgestimmt wurde. Es gibt durchaus Unterschiede zwischen dem gescheiterten Verfassungsvertrag und dem Vertrag von Lissabon. Für viele Millionen Menschen in Europa muss es aber so ausgesehen haben, als würde ihre Stimme nicht zählen, da nach der gescheiterten Abstimmung einfach so weitergemacht wurde wie bisher.

Wenn Bea nun dieses Jahr wählen geht und die EU und Medien ihr verspricht, dass ihre Stimme bei diesen Wahlen Einfluss auf die Eurokrise hat, kann das nur so enden, dass sie und viele, viele weitere Menschen enttäuscht werden. Diese Enttäuschung nennt man auch Politikverdrossenheit. Sie spielt Idioten wie der AfD oder der Front National in die Hände.

Langfristig glaube ich, dass wir die Struktur der EU komplett reformieren müssen. Seit über einem Jahr beschäftige ich mich nun fast ausschließlich mit Europa und der EU. Trotzdem hat es mehrere Tage gedauert bis ich für diesen Post das Wahlsystem, die Entscheidungsabläufe und den Haushalt der EU wenigstens ansatzweise verstanden habe. Eine Regierung darf meiner Meinung nach nicht so kompliziert sein, dass das Volk ein Studium braucht um die Institutionen zu verstehen. Vielleicht ist bei einer zukünftigen Europawahl das Parlament ja mal so wichtig, wie es jetzt tut.

Was das aber für diese Wahl heißt weiß ich nicht so recht. Für mich ist dies aber der Grund, warum ich Menschen sehr schlecht dazu überreden kann Wählen zu gehen. Ich weiß nicht wie man diese Situation verändern kann. Vielleicht ein wenig Understatement bei der Wahlwerbung? Habt ihr bessere Ideen?

9 thoughts on “Warum ich die 80,4% slowakischer Nichtwähler verstehen kann.

  1. Liebe Lilja, ich finde das so toll, was Du machst und wie Du schreibst!!!
    Zum Thema: Entscheiden ist anstrengend und kostet unser Gehirn viel Energie. Deshalb vermeiden wir es – die meisten Menschen leben so, dass sie an keinem Tag zu viele Entscheidungen treffen müssen (gleicher Käse, gleicher Wohnort, gleicher Mann, gleicher Job, gleiches Getränk in der gleichen Kneipe um die Ecke mit den gleichen Menschen zur gleichen Zeit). Mehr als sechs verschiedene Alternativen (wissenschaftlich festgestellt mit Marmeladeauswahl-Experimenten im Supermarkt) wollen wir nicht mal bei simplen Dingen, die unser Leben direkt betreffen, und wenn es dann um komplizierte Fragen geht, zu denen irgendwelche Leute, von denen wir noch nie was gehört haben, in irgendwelchen undurchsichtigen Gremien Stellung nehmen, dann stehen (Energie-)aufwand und (potentieller) Ertrag in keinem Verhältnis, ergo, wir kümmern uns nicht.
    Engagiert sind wir da, wo wir mit Leuten, die wir mögen, gemeinsam eine Sache, an der uns liegt, durch unsere Entscheidungen und Tätigkeiten beeinflussen, verändern, verbessern können. Da hats das Brüssel-Bürokraten- Europa dann ganz schwer…
    Viele liebe Grüße, Verena

    • Liebe Verena,

      vielen Dank für deine Gedanken! 🙂
      Besonders das Marmeladenexperiment klingt spannend – muss ich mal nachgucken.

      “Engagiert sind wir da, wo wir mit Leuten, die wir mögen, gemeinsam eine Sache, an der uns liegt, durch unsere Entscheidungen und Tätigkeiten beeinflussen, verändern, verbessern können” Ja, genau das denke ich auch. Die meisten Menschen engagieren sich für irgendetwas und wollen etwas verändern, sobald es aber heißt “Politik” und besonders “Europa” schrecken sie weg weil es ihnen zu kompliziert ist. Deshalb denke ich, dass sich unser System (langfristig) dem anpassen muss. Wir müssen eine Demokratieform für Europa finden, in der sich mehr Menschen einbringen können und die nicht so schwer zu verstehen und verschachtelt ist.

      Liebe Grüße,
      Frollein Europa 🙂

  2. Hallo Frollein Europa,
    danke für diese ausführliche Erklärung dazu, was meine Stimme alles (nicht) bewirken kann. Finde ich richtig gut, dass das mal erklärt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Fazit richtig verstanden habe. Was wäre ein Grund für mich, um doch wählen zu gehen?

    • Das ist etwas schwierig zu beantworten, den Grund musst Du ja am Ende selber für dich finden.
      Ich kann dir aber gerne erklären, warum ich trotzdem wählen gehen werde und dann kannst Du ja gucken was davon dich vielleicht überzeugt 🙂

      1. Es scheint im Moment nur die Alternativen EU oder gar kein Europa zu geben. Wann immer jemand die EU kritisiert triumphieren reche Gruppen und Parteien. Ich glaube nicht daran, dass der Schritt zurück zu geschlossenen Grenzen und “unabhängigen” Nationalstaaten der Richtige ist. Eine niedrige Wahlbeteiligung wird aber genau den Menschen, die sowas behaupten, Aufwind geben.

      2. Die Wahlkampferstattungen. Genau wie bei der Bundestagswahl gibt es bei der Europawahl eine Wahlkampferstattung. Für jede Wählerstimme bekommen die Parteien Geld. Selbst wenn ich nicht glaube, dass die Parteien so viel im Europaparlament ausrichten können wie im Wahlkampf behauptet wird, so gibt es doch ein oder zwei Parteien, denen ich die 70 Cent pro Stimme gönne.

      3. Ich möchte in dem Post ja nicht sagen, dass das europäische Parlament komplett sinnlos ist. Ich sage nur, dass es nicht soviel Macht hat wie im Wahlkampf behauptet wird. Anfang des Monats wurde im Parlament zum Beispiel über die Netzneutralität (http://de.wikipedia.org/wiki/Netzneutralit%C3%A4t) abgestimmt. Die Kommission hatte ein Gesetzesentwurf vorgeschlafen, der Rat zugestimmt und jetzt hat das Parlament Änderungen eingebracht. Bisher sieht es so aus, als würde der Rat diese Änderungen nicht annehmen und dann kommt es zu einem Vermittlungsversuch der Kommission.
      Ich finde Netzneutralität in Europa sehr, sehr wichtig und selbst wenn ich nur diese kleine Chance habe sie zu beeinflussen indem ich Parteien wähle, die sich für Netzneutralität einsetzen, ergreife ich sie. Selbst wenn ich mir wünsche, dass mein Einfluss größer bzw. direkt wäre.

      Vielleicht hast du ja auch Themen, die dir sehr am Herzen liegen. Wenn ja würde ich an deiner Stelle gucken, ob sich eine Partei dafür besonders einsetzt (also mal versuchen einen Blick hinter das ganze Pathosgetue zu werfen). Damit hast du immerhin eine kleine Chance das Thema zu beeinflussen 🙂

  3. Liebe Lilja,
    wie schön, dass deine Reise weitergeht! Dein Projekt und vor allem dein Stil ist großartig – beim Couchsurfen und Trampen mit Leuten ins Gespräch kommen ist für mich wirklich die beste Art, Erkenntnisse über Europa zu erlangen. Und dass du dich trotzdem auch um eine durch Fakten abgesicherte Perspektive bemühst, macht die hohe Qualität deines Projektes aus.

    Ich habe mich ehrlich gesagt auch noch nicht so sehr mit der EU als Institution beschäftigt – aber egal, wo ich in den letzten Jahren in Europa hingefahren bin (übrigens auf genau die gleiche Reiseart wie du), sogar in Island, was ich bis jetzt für ein Land gehalten habe, wo die Menschen relativ unabhängig von diesem EU-Kram leben, haben die Menschen irgendeine abstruse Vorstellung von der EU und das Thema “EU oder Nicht-EU” hat meistens eher mit persönlichen Ressentiments und einem imaginierten Nationalitätsselbstverständnis zu tun, als mit Recherche oder dem Versuch, etwas zu verstehen. Es muss herhalten für alle Probleme und Ängste.
    Das ist für mich schon das Hauptproblem. Das Markenzeichen “EU” ist eine Metapher geworden, für etwas, das sie nicht ist. Merkels Gesicht, irgendwelche Rettungsschirme und Krisen usw. Jetzt wissen wir ja, dass das erstmal nichts mit der EU die wir wählen zu tun hat. Viele (die ich getroffen habe) haben dazu eine Meinung, die so diffus ist und so viel Angst vor Identitätsverlust zeigt, dass man gar nicht weiß, wo man da mit dem Diskutieren anfangen soll.

    Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob man die EU reformieren kann, du scheinst da ja eher optimistisch zu sein. Deshalb sind es für mich auch Menschen wie du, die wirklich “EU” machen. Die losgehen und versuchen, das Abstrakte näher zu holen. Die wissen wollen, welche Menschen in der EU überhaupt leben und wieso unsere Lebensrealitäten so unterschiedlich sind. Aber das ist auch ein Privileg, Menschen, die an einen festen Ort gebunden sind und nicht die Zeit oder das Geld oder den Pass zum Reisen haben, werden auch nicht die Erfahrungen machen können, die du machst. Und für die bleibt die EU noch ungreifbarer und dann kann man sogar nachvollziehen, warum manche Leute AfD wählen – weil sie nicht weiter als bis zum Stadtrand denken können. Die EU Politik auf eine lokale Ebene bringen und mehr echte Begegnung ermöglichen, das wäre wichtig und ich weiß nicht, ob es möglich ist. (Vor allem in Bezug auf soziale Ungerechtigkeiten innerhalb der EU – solche Dinge sind so sensibel und so förderlich für negative Vorturteile gegenüber anderen)

    Auf jeden Fall Danke für deinen Blog. Wenn du mal wieder in Berlin ist, würde ich mich wirklich freuen, dich kennen zu lernen!

    • Liebe Judith,

      vielen, vielen Dank für dein tolles Kommentar! Es ist so schön Rückmeldungen zu bekommen, besonders so ausführliche!

      Ich bin mir nicht sicher ob man die EU reformieren kann, ich hoffe es sehr. Ich glaube sogar, dass uns auf lange Sicht nicht viel anderes übrig bleiben wird, da ich nicht glaube, dass es ewig (friedlich) so weiter gehen wird… Ich glaube ohne Reformen riskieren wir die Idee von einem geeinten Europa ganz zu verspielen.

      “Aber das ist auch ein Privileg, Menschen, die an einen festen Ort gebunden sind und nicht die Zeit oder das Geld oder den Pass zum Reisen haben, werden auch nicht die Erfahrungen machen können, die du machst.” Da stimme ich dir vollkommen zu! Ich glaube, dass das genau das Problem der EU ist. Ich habe Freunde in Brüssel und auch sonst dort tolle Menschen kennengelernt, die wirklich Idealisten. Die sind begeistert von der EU, glauben an ihre Demokratie und wissen sie zu nutzen. Nur leider nutzt die tollste Idee nichts, wenn sie bei den Menschen nicht ankommt, bzw. die Menschen in Europa sie nicht mögen. Darauf müssen wir eingehen und das müssen wir ernst nehmen, sonst bleib es halt nen Elitenprojekt…

      Ich bin im Moment wieder in Berlin, schreib doch mal eine Mail an lilja@frolleineuropa.de und dann können wir uns sehr gerne mal auf nen Kaffee oder so treffen!

  4. Pingback: Warum Wahlen, wenn es auch einfacher geht? – Interview with a Slovak EU-Politician | frolleineuropa

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