Diesmal geht’s um mehr – oder auch nicht. #EP2014

Es gibt in der, nun online zu sehenden, Hier und Heute Reportage eine Szene, bei der ich in Bratislava mit Jean-Claude Juncker in seinem Wahlkampfbus sitze. Dort erklärte mir Juncker, warum diese Wahl etwas völlig anderes sei, als die Europawahlen zuvor: Der Kommissionspräsident würde nun von den Europäern gewählt werden.       
Juncker wirkte müde bei dem Interview. Neben uns saß seine nervöse Pressesprecherin, die hektisch auf ihrem Telefon tippte, einen „Juncker for President“ Button an ihrer Jacke trug und uns beständig an die schon vergangene Zeit erinnerte.
Eventuell lag es an dieser Umgebung, dass  mich kaum Begeisterung für diese
„Schicksalswahl“ packte. Wahrscheinlich aber daran, dass mir die Wahl des Kommissionspräsidenten, wie so viele Initiativen der EU, reine Klientelpolitik zu sein schien.  Aber jetzt hat diese Wahl es doch noch geschafft mich zu überraschen und etwas Unerwartetes erreicht: schicksalhaftes Versagen.

In Junckers Bus

In Europa gibt es einen perfekten EU-Lebenslauf. Ein Leben, bei dem die EU einem vom Babyspielzeug bis zur Jobwahl positiv begleitet. Menschen mit diesem Lebenslauf sind als Kinder mit ihren Eltern gereist. An den Grenzen hörten sie von ihnen abenteuerliche Geschichten über stundenlanges, urlaubszeitfressendes Warten an den Grenzen. Während des Studiums nutzten sie das Erasmus-Programm. Heute sprechen sie mindestens zwei Sprachen und können sich überall in Europa um Arbeit bewerben.

Aber immer wieder wird vergessen, dass Erasmus-Studierende nicht die Mehrheit der Europäer stellen. Als offizielles Ziel der EU gilt es, die Anzahl der Hochschulabsolventen bis 2020 auf 40% zu steigern.
Das heißt, dass es noch immer mehr Menschen gibt, die niemals vom Erasmus-Programm profitieren. Wenn ich trampe nehmen mich oft Menschen mit, die seit ihrem 16. Lebensjahr arbeiten. Ihre Löhne sind so niedrig, dass sie äußerst selten in den Urlaub fahren. Ihre Kindern beginnen ebenfalls mit 16 eine Ausbildung und der gemeinsame Arbeitsmarkt hilft ihnen höchstens insofern, dass sie irgendwo als unterbezahlte und unwillkommene Leiharbeiter arbeiten könnten.

Meiner Erfahrung nach sind sie es, die nicht Wählen gehen. Sie fühlen sich von der Politik alleine gelassen und vor allem machtlos. Dieses Gefühl existiert auf nationaler Ebene und wird noch schlimmer wenn es um die EU geht.
In meiner alten Schule wurde die EU in der Oberstufe gelehrt. Und meiner Erfahrung nach wissen selbst die, die verschiedenen Institutionen der EU eigentlich im Unterricht hatten, nicht wirklich wer vor dem Lissabonner Vertrag den Kommissionspräsidenten wählte.
Wie sollen nun also Menschen, deren Leben keinerlei Berührungspunkte mit der EU haben und die die EU nie in der Schule hatten, verstehen was an dieser Wahl eine „Schicksalswahl“ sein soll?
Die niedrige Wahlbeteiligung in fast allen Ost- und Zentraleuropäischen Ländern zeigt, dass es nicht verstanden wurde.

Daran, dass sich Millionen Europäer der EU sehr fern fühlen hat die geplante Wahl des Kommissionspräsidenten durch das europäische Parlament also nichts geändert. Eben weil die meisten Menschen das Institutionengefüge eh nie verstanden haben, halte ich die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament für ein Bonbon für diejenigen, die eh schon auf diesen, oben beschriebenen EU-Lebenslauf, zurückblicken können. Das die Menschen, die der EU generell positiv gegenüberstehen, sie zumindest im Groben verstehen, wählen gehen und das „Demokratiedefizit“ nicht nur so nennen, sondern es auch bemängeln.

Der historische Verdienst dieser Wahl ist nun, sich nicht nur noch weiter von einem großen Teil des europäischen Volkes zu entfernen, sondern auch noch die eigenen Leute zu vergraulen.

Die eigenen Leute haben daran geglaubt, dass sie mit ihrer Stimme beeinflussen können, wer Kommissionspräsident wird. Nun hat Junckers EVP die Europawahl gewonnen. Darum, ob Juncker jetzt Kommissionspräsident wird, gibt es ein peinliches Gezerre.
Merkel ist von der Idee nicht mehr so begeistert, Cameron und einige andere sind dagegen. Der Lissabonner Vertrag regelt, dass der Europäische Rat einen Kommissionspräsidenten vorschlägt und das Parlament ihn dann mit einfacher Mehrheit wählt. Allerdings muss der Rat das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigen“. „Berücksichtigen“, heißt das jetzt „mal drauf gucken“? Oder „sich daran halten“, oder aber: jemanden aus der gewinnenden Fraktion vorschlagen, egal wen? Es ist mir ein Rätsel, warum der Vertrag derartig schwammig geschrieben ist.
Sicher hat sich haben sich die Fraktionen des europäischen Parlaments sehr weit aus dem Fenster gelehnt, als sie Spitzenkandidaten ins Rennen brachten.

Und es gäbe in der  Tat die ein oder andere ketzerische Frage zu beantworten. Zum Beispiel, was ist nun demokratischer: Wenn ein durch nicht mal die Hälfte aller Europäer gewähltes Parlament den Kommissionspräsidenten wählt, oder wenn die in ihren jeweiligen Ländern gewählten Staatschefs den Kommissionspräsidenten auswählen?
Und wenn weniger als die Hälfte aller Europäer überhaupt gewählt haben, und davon fast 20% EU-ablehnende Parteien, ist das dann ein Auftrag dafür, die Befugnisse des Parlaments zu stärken?

diesmal geht's um mehr BildEines der “Geht wählen!” Plakate des EU-Parlaments

Nur: Diese Fragen hätten Merkel und Cameron vorher stellen sollen. Es war abzusehen, dass rechtspopulistische Parteien Stimmen holen und dass die Wahlbeteiligung nicht durch die Decke gehen wird. Jetzt zurückzurudern und dem Parlament mehr Macht nicht zuzugestehen ist ein Affront gegen die, die gewählt haben. Der Hauptgrund für Politikverdrossenheit ist das Gefühl eh nichts verändern zu können.

Wie schon gesagt habe ich dieses Gefühl meisten bei denjenigen erlebt, die man klassischerweise wohl „Arbeiterklasse“ nennt (ein Freund von mir hat mal gesagt, dass wir so tun als würden Klassen nicht mehr existieren und weil wir so lange nicht mehr darüber geredet haben, fehlen uns jetzt bessere Wörter. Also, habt ihr bessere Vorschläge für diese moderne Arbeiterklasse?).
In der Slowakei hingegen fühlten sich alle, mit denen ich sprach, machtlos. Von der Zahnärztin, zur Bäuerin zum Student. Mit diesem Gefühl der Machtlosigkeit erkläre ich mir die extrem niedrige Wahlbeteiligung von 13% bei der Europawahl in der Slowakei.
Außer man strebt eine Autokratie „passive Demokratie“  a la Boris Zala an, ist es sehr, sehr gefährlich auch noch dem eigenen Klientel und somit den letzten Menschen, die der EU vertrauen, vor den Kopf zu stoßen.

„Die EU ist eine historisch einmalige demokratische Erfolgsgeschichte und eine Beta-Version, an der wir alle aufgerufen sind mitzuschreiben“, sagt Julia Reda. Sie ist frischgewählte Europaabgeordnete der Piratenpartei und für mich einer der einzige Gründe zur Freude bei dieser Europawahl. Ich mag das obige Zitat zur EU sehr gerne, beginne mich aber zu Fragen, was wenn sich immer mehr zeigt, dass diese Beta-Version leider kein Open-Source Projekt ist? Und bei jedem Update fehlerhafter wird?

Was zieht ihr für Schlüsse aus dieser Europawahl?

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